Die Wissenschaft hat festgestellt…

Kürzlich las – oder besser: überflog – ich eine Rezension eines Buches, in dem ein Wissenschaftler uns erklärte, dass früher eben doch alles schlechter war. Blöderweise weiß ich nicht mehr, wo ich auf ihn gestoßen bin. Ich habe deshalb eine Internetrecherche gestartet, indem ich „Früher war alles schlechter“ als Suchbegriff eingab – so lautete der Untertitel meiner Erinnerung nach. Diesen Artikel fand ich nicht, aber jede Menge anderer, die uns alle zu erklären versuchten, dass, genau, früher alles schlechter war. Und, weil es ja wissenschaftlich sein soll, anhand jeder Menge Zahlen. Dass heute soundsoviel Prozent aller Menschen lesen und schreiben können statt wie anno Pulverdampf nur soundsoviel Prozent. Dass die durchschnittliche Lebenserwartung heute über 80 Jahre beträgt statt 30 oder 40 wie irgendwann mal in früheren Zeiten. Dass das durchschnittliche Platzangebot, das einem Individuum heutzutage in einer Wohnung zu Verfügung steht, über 45 Quadratmeter beträgt verglichen mit neunzehnhundertdideldum, wo es nur die Hälfte war. Undsoweiter und so fort.

Muss ich eigentlich solche Bücher bemühen, um das zu realisieren? Ein Besuch in einem frühgeschichtlichen Museum wirft doch bei jedem halbwegs zurechnungsfähigen Menschen die Frage auf, ob er heute mit steinzeitlichen Lebensumständen klarkäme. Ein paar Abenteurer oder irgendwelche wagemutigen Experimentalarchäologen mag es geben, die das freiwillig eine Zeit lang versuchen. Aber auch die sind vermutlich froh, wenn sie irgendwann mal wieder zuhause sind, in gut beheizten und beleuchteten Räumen ihre Vorträge darüber halten oder am mehr oder weniger aufgeräumten Schreibtisch ihr Buch in den Laptop hacken können. Aber man muss gar nicht bis in die Steinzeit zurückdenken: Der 20 Jahre alte VW Golf, den ich derzeit fahre, hat immerhin ABS, Airbags und elektrische Fensterheber. Mit ihm kann ich jede Kurve viel rasanter nehmen als mit dem alten Käfer, mit dem ich meine ersten Autofahrversuche unternahm. Und wenn ich doch mal zu schnell bin, retten mich hoffentlich ABS und Airbag. Auch kratze ich, wie ich das als Kind tat, heute keine Löcher mehr in die Eisblumen, die sich regelmäßig im Winter auf der Innenseite des Kinderzimmerfensters bildeten – trotz bescheidener Wohnverhältnisse kann ich dank Thermoverglasung auch bei harten Minusgraden jederzeit ungehindert nach draußen schauen.

Was nützt mir dieses „Besser“-Wissen, wenn ich gleichzeitig weiß, dass Millionen von Menschen ihre Fähigkeit zum Lesen und Schreiben nur dazu ge- bzw. mißbrauchen, um bestenfalls dämliche, leider aber auch allzu oft hasserfüllte Botschaften via Twitter oder Facebook in die Welt zu posaunen? Was nützt dieses Wissen dem Meeresgetier, das an den Millionen Tonnen von Plastikmüll in den Weltmeeren zugrunde geht? Wie denkt jemand über solche Wissenschaft, der Aleppo noch als intakte Stadt erlebt hat? Ist es ein Glück für ihn, dem Grauen entkommen zu sein und sich jetzt „nur“ mit ein paar Neonazis herumschlagen zu müssen? Was nützt mir dieses Wissen, wenn ich einer von den über 4 Millionen Menschen in Deutschland bin, die an Depressionen leiden? Es ist, ich mache mal wieder eine Rückblende in die Kinderzeit, wie mit dem Essen, das man verabscheut und einem mit dem Hinweis schmackhaft gemacht werden sollte, dass viele Kinder auf der Welt gar nichts zu essen haben. Es will und will trotzdem nicht schmecken.

Man könnte auf die Idee kommen, dass ich hier einem pessimistischen Weltbild das Wort reden will. Ist aber nicht so. Ich wundere mich nur, welchen Aufwand man betreibt, um Leuten entgegenzutreten, die in vollem Brustton der Überzeugung behaupten, früher sei alles besser gewesen. Als ob man die je hätte ernst nehmen müssen. Andererseits kann man sich überlegen, was passieren würde, wenn diejenigen, die Missstände – welcher Art auch immer – aufzeigen oder gar an ihrer Abschaffung arbeiten, damit aufhören. Weil ja alles schon so schön ist und viel besser als früher. Man darf annehmen, dass schon unsere steinzeitlichen Vorfahren mit ihren Lebensumständen unzufrieden waren, andernfalls wir heute nicht autofahren, fernsehen, zentralbeheizt wohnen und mit kleinen elektronischen Geräten alberne Selbstbildnisse verbreiten würden.

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Kurz gesagt: Lasst mich einfach mit diesem „Früher war alles besser/schlechter“-Scheiß in Ruhe; beides stimmt und stimmt nicht – ist eben immer eine Frage der Perspektive und des Standortes. Und Vieles ist eben nicht Alles.

Aber zurück zu den kleinen Dingen: Ich freue mich, dass mein alter Golf eine vernünftige Heizung hat und ich zu dieser Jahreszeit nicht in einem Käfer unterwegs sein muss. So wie es viele andere Errungenschaften der Zeit gibt, die ich nicht missen möchte (ich stelle mir gerade vor, ich müsste diesen Text auf einer Schreibmaschine schreiben – wenn ich außer Tinte und Feder nie etwas anderes kennengelernt hätte, fände ich das sicher sehr fortschrittlich). Aber ich träume natürlich davon, im Sommer mal wieder mit einem alten Käfer unterwegs zu sein. Mit von Hand heruntergekurbelten Fenstern.

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Foto: GG

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